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Fremdkörper in Marburgs Neuer Mitte
Presse
Information Marburg, 26.Februar 2006 Ein
Fremdkörper in Marburgs Neuer Mitte? IGMARSS
befragte Bürger zum neuen Bankgebäude in der Biegenstraße Seit einem dreiviertel Jahr ist die letzte Baulücke in Marburgs Neuer Mitte geschlossen. Ein wuchtiger Baukörper, mit der Volksbank als Hauptnutzer, steht nun dort – mit architektonischen und städtebaulichen Eigenschaften, über die sich wohl streiten lässt. Von Anfang an begleitete die IGMARSS die Planung und Ausführung dieses Bauvorhabens kritisch. Ihre wichtigsten Bedenken waren: die Einfügung eines allzu massigen Baukörpers, der nur eine schmale Sicht auf das denkmalgeschützte Biedermeier-Häuschen am Lahnufer lässt; eine phantasielose Architektur mit durchgehender Fassade, d. h. ohne strukturierende Durchlässe oder Profilierung; eine allzu schlichte und Fortsetzung der schon vorher erfolgten „modernen“ Bebauung wie des Cineplex-Gebäudes mit weiterer Zerstörung des alten und gründerzeitlichen Ensembles von Biegenstraße und Pilgrimstein; schließlich eine Bauhöhe und Dachform, die sogar von der Oberstadt aus den Blick auf das Lahntal beeinträchtigt.
Um das öffentliche Urteil über das Gebäude auf eine breitere Grundlage
zu stellen – für einige Adressaten der Kritik gilt ja die IGMARSS als Verein
der notorischen Bedenkenträger gegen vermeintliche Konzeptionslosigkeit und
„Bausünden“ der Marburger Stadtplanung -,
veranstaltete diese eine schriftliche Befragung von Bürgern und Passanten, die
um ihre persönlichen Urteile über das Objekt gebeten wurden. Geplant und
ausgewertet wurde sie von dem emeritierten Sozialforscher
Prof. Dr. Hartmut Lüdtke, Institut für Soziologie der Philipps-Universität,
im Zeitraum zwischen Juli 2006 und Januar 2007.
Die Stichprobe der Befragten, eine Mischung aus Willkür-, Zufalls- und Schneeballauswahl, setzt sich aus Personen zusammen, die hinreichend mit dem Gebäude vertraut waren, teils in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Gebäude (Passanten und Café-Gäste), teils zu Hause, in Schulen oder auf der Marburger Vereinsmesse befragt, einige Male auch mit der Konfrontation großer Fotos des Objekts. 61 % sind Frauen, 39 % Männer. 22 % gaben einen Haupt- oder Realschulabschluss an, 23 % das Abitur und 39 % einen (Fach-) Hochschulabschluss. Das Durchschnittsalter beträgt 43,5 Jahre mit einer Spannweite zwischen 13 und 86 Jahre. Da sich die Altersangaben über zwei Punkten häufen, werden weiter unten 2 Gruppen verglichen: eine junge mit einem Durchschnitt von 26,5 und eine ältere mit einem solchen von 60,8 Jahren. 20 % hatten das Gebäude erst 1-4mal gesehen, 27% 5-10mal und 53 % häufiger, davon die meisten (fast) täglich.
Diese Auswahl von 181 Personen kann nicht als repräsentativ gelten, wohl
aber als eine mit großer demografischer Streubreite. Ohnehin wäre die Frage
kaum zu beantworten, in Bezug auf welche Gesamtheit (alle „Marburger“?) eine
solche Befragung „repräsentativ“ sein könnte. Das Vorherrschen höherer
Bildungsabschlüsse lässt aber vermuten, dass die Befragten als an Stadtplanung
relativ stark interessierte und kritische Gruppe gelten können.
Die IGMARSS legt Wert auf den Hinweis, dass mit der Erhebung keine „objektivierende“ Expertise beabsichtigt war, sondern Einschätzungen informierter Personen in ihrer subjektiven Sicht gesammelt und zusammengefasst wurden. Es kann aber als Binsenweisheit gelten, dass Bewohner sich gegenüber ihrer städtebaulichen Umwelt vorwiegend nach ihren subjektiven Wahrnehmungen und weniger nach objektiven Planungsmerkmalen orientieren und verhalten. Den Befragten wurde ein 1seitiger Bogen vorgelegt (siehe Anhang). Auf diesem waren 14 gegensätzliche Eigenschaftspaare (z. B. elegant – plump) aufgelistet, und die Befragten sollten angeben, ob jeweils mehr der linke oder der rechte Begriff auf das Gebäude zutrifft, mit der Möglichkeit von 7 Abstufungen in Form von Kästchen, von denen eins anzukreuzen war. Danach wurden sie noch um ihr Gesamturteil zwischen „sehr gut“ und „sehr schlecht“, mit wiederum 7 möglichen Abstufungen, gebeten. Am Ende des Bogens sollten Angaben zum Alter, Geschlecht, Schulabschluss und zur Häufigkeit, das Gebäude „gesehen“ zu haben, notiert werden. Selbstverständlich erfolgte das Ausfüllen des Bogens anonym und unbeeinflusst durch andere Personen. Die Abstufungen zwischen den Begriffspolen wurden mit 1 – 7 bewertet, der theoretische Mittelwert beträgt daher 4. Um die Neigung der Befragten zu einseitig positiven oder negativen Urteilen zu verringern, wurden abwechselnd die „positiven“ bzw. „negativen“ Bedeutungen mal auf die linke, mal auf die rechte Seite geschrieben. Dementsprechend liegt ein eher positiver bzw. negativer Gesamtwert mal über, mal unter dem theoretischen Mittel.
Die Mittelwerte der Befragtenangaben zwischen diesen Polen 1 und 7 lauten:
Wert 1 Mittel Wert 7 schön 4,74 hässlich einseitig nutzbar 3,39 vielseitig nutzbar billig 4,18 aufwendig klar 3,20 verwirrend ist ein Fremdkörper 3,29 fügt sich gut ein elegant 4,69 plump langweilig 2,56 aufregend modern 3,09 traditionell klotzig 2,63 aufgelockert vertraut 4,98 fremd abweisend 3,03 anziehend phantasievoll 5,63 einfallslos Umgebung bereichernd 5,10 Umgebung abwertend künstlich 2,69 natürlich Gesamturteil: sehr gut 4,95 sehr schlecht
Ein Blick auf
die Attribute, deren Bewertungen deutlich von der Mitte abweichen (kleiner als 3
bzw. höher als 5), erschließt folgende Tendenzen:
das Bauwerk wird im Schnitt klar als langweilig, klotzig, einfallslos,
die Umgebung abwertend und künstlich
beurteilt. In der Gesamtbewertung erweist es sich mit einem Mittel von
„5“ deutlich als „schlecht“. Weniger ausgeprägt sind folgende
Urteile: der Tendenz nach eher hässlich, einseitig, klar, Fremdkörper,
plump, modern, fremd und abweisend, während
„billig“ und „aufwendig“ sich die Waage halten.
Gemessen an den höchsten Standardabweichungen, urteilten die Befragten
bei folgenden Polaritäten am heterogensten, d. h. sie waren sich hier am
wenigsten einig: „Fremdkörper“ versus „fügt sich gut ein“,
„elegant“ versus „plump“ und „Umgebung bereichernd“ versus
„abwertend“. Was die Einordnung des Gebäudes in die Umgebung betrifft,
waren die Gegensatzpaare allerdings nicht gut gewählt: sie ließen offen, ob
sich die Urteile der Befragten auf die
traditionelle oder die moderne städtebauliche Umgebung beziehen, die ja beide
ich Marburgs Mitte infrage kommen.
Wie wirken sich nun die demografischen Unterschiede und Verzerrungen der Stichprobe auf die Ergebnisse aus? Als Erstes wurde geprüft, ob die zuerst Befragten sich in ihren Urteilen von den später Befragten unterscheiden: Stimmen die Daten der ersten und zweiten Hälfte der zeitlich geordneten Stichprobe überein? Dies ist in der Tat der Fall: bei keinem Begriffspaar sind die Unterschiede zwischen beiden Hälften höher als nach dem Zufall zu erwarten. Ebenso wenig unterscheiden sich Frauen und Männer in ihren Urteilen. Dagegen sind die Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen stärker ausgeprägt, wie folgende Differenzen ihrer Mittelwerte zeigen. Die Älteren beurteilten das Gebäude als „hässlicher“ (1,1), „billiger“ (0,9), weniger „klar“ (0,5), eher als „Fremdkörper“ (1,0) und „fremd“ (0,8), „plumper“ (1,1), „langweiliger“ (0,7), weniger „modern“ (0,5), „klotziger“ (0,6), „abweisender“ (0,6), „einfallsloser“ (0,8), „die Umgebung abwertender“ (1,0), „künstlicher“ (0,6) und insgesamt als „schlechter“ (0,9). Sie äußerten sich also durchgängig kritischer und skeptischer. Es wäre allerdings zu einfach, die Älteren aufgrund des einen oder anderen Unterschieds im Urteil als notorische „Traditionalisten“, die Jungen dagegen als „modernitätsoffener“ zu klassifizieren. Eher ließe sich interpretieren: die Älteren verfügen über ein entwickelteres Sensorium in der Wahrnehmung eines solchen neuen Baukörpers, der offenbar ein gewohntes (und in ihrer Sicht bewährtes) städtebauliches Ensemble sprengte.
Die Unterschiede des Bildungsabschlusses erklären nur schwach
Differenzen der Beurteilung (die Rangkorrelationen Tau-b mit den Urteilen überschreiten
nicht den Wert +/- 0,18), so dass sich eine detaillierte Interpretation
verbietet: Sie verweisen, wie oben vermutet, insgesamt auf eine mit der Bildung
kritischer werdende Einstellung. Am sichtbarsten zeigt sich dies im Vergleich
von Haupt- und Realschulabsolventen mit den FHS- und Hochschulabsolventen
hinsichtlich ihrer Gesamtbewertung: Erstere vergaben im Schnitt die „Note“
4,45, Letztere 5,26, d. h. deutlich mehr in Richtung auf „sehr schlecht“ (=
7).
Mittels
Faktorenanalyse (4 Faktoren, 74 % Varianzaufklärung) lassen sich die unabhängigen
Dimensionen trennen, nach denen
die Befragten urteilten: allgemeine Tendenzen aufgrund der inhaltlichen
Überschneidungen der Einzelskalen:
Die erste Dimension ist mit -0,62 hoch negativ mit der zusammenfassenden Bewertung nach „sehr gut – sehr schlecht“ korreliert; sie bildet daher die wesentlichen Kriterien einer positiven Bewertung des Objekts ab. Die zweite Dimension ist mit der Gesamtbewertung positiv (0,51) korreliert, fasst daher die Kriterien eines negativen Gesamturteils zusammen. Die Korrelation mit der dritten und vierten Dimension sind erheblich schwächer ausgeprägt (-0,30 bzw. 0,21).
Die Ergebnisse der Befragung bestätigen leider – so sieht es der Vereinsvorstand – die „Vor-Urteile“ der IGMARSS, in deren Reihen sich ja selbst eine beträchtliche Zahl von Architektur- und Städtebauexperten befindet, über den neuen Bau in der Biegenstraße, und zwar weitaus eindrucksvoller als zunächst erwartet. Vorstand und Untersuchungsleiter betonen, dass sie sich bei der Auswahl der Befragten so weit wie möglich um Objektivität und Neutralität bemüht haben. Die Befunde zeigen, auch wenn sie auf subjektiven Urteilen von, in der Mehrzahl, Laien beruhen, detaillierte neuralgische Punkte in der Gestaltung von Gebäuden und städtebaulichen Strukturen auf.
Für die Initiative ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: - Die wissenschaftlich abgesicherte Evaluation solcher, vor allem sich bereits im Vorfeld als umstritten erweisende, Bauprojekte sollte fortgesetzt und künftig zur Regel werden. Auch wenn eine nachträglich Korrektur von (Fehl-) Planungen aufgrund der Ergebnisse nicht möglich ist. - Ihre Ergebnisse sollten einer breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Studien dieser Art können sicherlich dazu beitragen, Bürgerinteresse und -kritik an größeren, das Stadtbild mitprägende künftige Bauprojekte zu fördern. - Damit könnte, wirksamer als bisher in Marburg, die Kommunikation, der Austausch vernünftiger Argumente und der politische Entscheidungsprozess zwischen Bürgern, Investoren und Magistrat befördert und gepflegt werden, so dass mehr und frühzeitigere demokratische Legitimität Eingang in die Stadtentwicklung findet.
Frühjahr 2005: Web Voting zum Erlenringcenter:
Neues Web Voting zum Gestaltungsbeirat hier! Komiker Martin 'Maddin' Schneider am 19.3.2004 in der Oberhessischen Presse: Schüler-Frage: "Was gefällt Ihnen nicht an Marburg?" M.Schneider: " Zum Beispiel verschiedene Bausünden. Man schaue einmal vom Cafe Vetter auf das Cineplexcenter, da wird einem doch schlecht...das neue Kino sieht von oben, vom Cafe Vetter, sehr hässlich aus." " Umfrage der Oberhessischen Presse / 18.Januar 1999
Kommentar zum Bericht "Marburg 2020 – Bevölkerungsentwicklung und Wohnungsbedarf" Vorbemerkung: In den Argumenten der Marburger Stadtplaner und Politiker finden sich immer wieder Hinweise auf die Notwendigkeit noch mehr Wohnraum zu schaffen. Das dem Stadtparlament vorgelegte Gutachten des Stadtentwicklungsreferenten Wolfgang Liprecht gibt endlich Antwort auf Fragen nach der Bevölkerungsentwicklung (rückläufig!), nachdem OB Möller und Stadtplaner lange Zeit von Zuwachs oder Gleichstand gesprochen hatten. Die Notwendigkeit, dennoch noch mehr Wohnraum zu schaffen und damit weitere Flächen zu versiegeln und zu bebauen (u.a. im Park des ZSP) wird mit veränderten Wohnansprüchen begründet. Der Geografie Student und IG MARSS Mitglied Ulf Marold setzt sich kritisch mit dem Gutachen auseinander: Der Bericht zur Marburger Wohnungsbedarfsentwicklung, vorgelegt der Stadtverordnetenversammlung im Mai 2003, ist primär von einem nicht-nachhaltigen Denken geprägt: Der Grundtenor ist dabei, dass die Stadt den "zwingenden Sachverhalten" gesellschaftlicher Entwicklung unterworfen sei. Gleichzeitig sieht sie sich in dem Zwang, im Wettbewerb zu anderen Städten und Gemeinden zu stehen. Leider ist dies kein Einzelfall, sondern das grundsätzliche Denken einer primär ökonomisch orientierten Gesellschaft. Trotzdem sollte es vornehmliche Aufgabe einer Stadtentwicklung sein, nicht-nachhaltigen Entwicklungen entgegenzusteuern statt sie zu bedienen. Dass letzterem im Bericht ein eindeutiger Vorrang eingeräumt wird, erscheint offensichtlich, wie im Folgendem dargelegt werden soll:
Auch wenn auf Seite 4 des Berichtes die Rede von Bestrebungen ist, eine "Begrenzung des Landschaftsverbrauchs" zu erreichen, ist die Wohnbauprognose offensichtlich von anderen, vorwiegend finanziellen Motivationen geprägt. Angesprochen wird auf den Seiten 7-8 ein Wettbewerb der deutschen Städte und Regionen um Einwohner. Geschähe die Wohnraumbereitstellung im Oberzentrum Marburg nicht in ausreichender Menge, so käme es (aufgrund der Veränderung der Bodenpreise) zu einer Verlagerung der Bevölkerung ins Umland. Dabei wird davon ausgegangen, dass der dortige Zuwachs der Bevölkerung von der Stadt Marburg induziert wurde, d.h. dass die Stadt als entscheidender Magnet für Zuzüge in die Region anzusehen ist. Dies würde aber zu einer erhöhten Verkehrsbelastung im Umland und in der Stadt Marburg selbst führen, da dort adäquate Busverbindungen fehlen und Arbeits- und Einkaufsmöglichkeiten im Wesentlichen auf Marburg reduziert bleiben dürften. Diese Überlegung ist zwar nicht von der Hand zu weisen, doch muss auch klar gesagt werden, dass die Marburger Stadtplanung selbst "innerhalb der Stadtmauern" bis heute nicht viel dazu beigetragen hat, innerstädtischen Individualverkehr zu reduzieren bzw. verträglicher zu machen. Dies lässt sich z.B. an der Tatsache erkennen, dass nur wenige der richtungsweisenden Vorschläge des Verkehrsentwicklungsplans bisher aufgegriffen, geschweige denn in die Tat umgesetzt sind. Als weiteres Beispiel ist die Parkhausermäßigung bei einem Oberstadteinkauf zu nennen, der zwar der wirtschaftlichen Stabilisierung der Oberstadtgeschäften dienen mag, anderseits wohl als Argument von Besuchern aus den Umlandgemeinden herangezogen wird, statt dem ÖPNV auf das Auto zurückzugreifen. Vor dem Hintergrund der bisher praktizierten Marburger Verkehrspolitik erweist sich die Ernsthaftigkeit der herangezogenen Argumentation der Verkehrsvermeidung bei dem gleichzeitigen Willen, Kaufkraft aus dem Umland heranzuziehen, als etwas fragwürdig. Auch wenn die Schwierigkeit der Etablierung eines rentablen ÖPNV im Umland fraglos ein ernstzunehmendes und tatsächlich schwer zu lösendes Problem darstellt, gibt dies nicht die Berechtigung, diese schlechte Situation als unveränderliche Tatsache anzusehen, wie es auf Seite 8 getan wird: "...gibt es dort [im Umland] gegenwärtig keine akzeptable ÖPNV-Verbindung und es kann sie auch zukünftig nicht geben" Viel deutlicher erscheint im Bericht hingegen die finanzielle Motivation, welche hinter der Wohnungspolitik liegt. (Stichwort: Schlüsselzuweisung des Landes, welche an der Einwohnerzahl bemessen werden.) Zwar füllt die Argumentation der verkehrliche Aspekte etwa 1/3 der Seite 8 des Berichtes, während dem finanziellen Aspekt lediglich vier Zeilen gewidmet sind, doch zieht sich diese durch den gesamten Bericht, während ökologische Aspekte mit Ausnahme der Verkehrssituation nicht in Betracht gezogen werden. Wie schon ausgeführt, widerspricht sich hier Anspruch des Berichts und verkehrspolitische Realität, so dass dieses Argument wohl in den Bereich der "Sonntagsreden" einzuordnen ist.
Der doch nicht unwesentliche Bedarf an Neubauwohnungen bis 2020 trotz sehr wahrscheinlich sinkender Bevölkerungszahl wird im Wesentlichen mit dem Sachzwang begründet, gesellschaftliche Tendenzen bedienen zu müssen. Leider ist es eine Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung immer mehr Wohnfläche beansprucht, dass also der Bedarf an Wohnfläche pro Person immer größer wird. Aus diesem Trend ergibt sich laut Bericht der hohe Nachholbedarf für die Bereitstellung zusätzlicher Wohnfläche in Marburg. Der gesamthessische Durchschnitt wird herangezogen, um diese Argumentation zu untermauern. Muss sich in Marburg durchschnittlich jede Person mit 35,72 m² zufrieden geben, so hat der durchschnittliche Gesamthesse ganze 40,97 m² zur Verfügung (jeweils nur Hauptwohnsitze, gem. S. 19, Tab.9)! Marburg sollte sich laut Bericht bemühen, dass "wenigstens die hessischen Durchschnittswerte in der Wohnbelegung erreicht werden" (S.19). Hierbei wird aber nicht erwähnt, dass ein hessischer Durchschnitt für eine von Studenten geprägte Stadt wohl weder realistisch noch wünschenswert sein dürfte. Dies sollte aber durchaus auch in einer Prognose mindestens angesprochen werden, selbst wenn eingangs erwähnt wurde, dass eine Prognose der Bevölkerungsstruktur (Altersverteilungen und "sozialer Status") nicht erstellt werden konnte. Das Wettbewerbsbestreben wird hier wieder sehr deutlich. Dies ist ein weiteres Merkmal einer angestrebten nicht-nachhaltigen Entwicklung. Immerhin wird eingeschränkt, dass der Nachholbedarf aufgrund der konjunktureller Situation möglicherweise nicht zu realisieren sei, sprich: Die Bevölkerung hat kein Geld für den Kauf oder die Miete größerer Flächen. Dieses wichtige Argument wird aber nicht weiter verfolgt, geschweige denn für verschiedene konjunkturelle Situationen Szenarien entworfen. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es einen potentiellen Nachholbedarf gibt, der durch die Bereitstellung weiterer Wohnflächen zu aktivieren sei: "Es gibt jedoch unübersehbare Hinweise [welche, wird nicht genannt!], dass hier ein Nachfragepotential vorhanden ist, dass sich gegenwärtig auf vergleichsweise niedrigem Wohnungsversorgeniveau arrangiert hat und bei adäquaten Angeboten sowie verbesserten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aktivierbar ist" (S. 19) Hinzu kommt der Bedarf an "qualitativ" besseren Wohnungen: "..., dass jeder Wohnungs- oder Grundstücksinteressent nicht nur ‚ein’, sondern auch ‚sein’ Objekt findet. (S. 23) Diese "Qualitätsreserve" müsse vor allem durch die Bereitstellung von Einfamilienhäuser bzw. Doppel- und Reihenhäuser geschehen, denn "konkurrierend treten hier [bei diesen Wohnformen] preiswerte Grundstücksangebote von Umlandgemeinden auf den Markt. Die Notwendigkeit eines marktgängigen und ausreichenden Angebotes an Grundstücken auf der Gemarkung der Stadt Marburg erfolgt daraus zwingend " (S. 22) Dies entlarvt auch die auf Seite 4 genannten "Bemühungen der Stadtentwicklungsplanung um eine Begrenzung des Landschaftsverbrauchs" aufgrund des hierbei größeren Flächenverbrauchs pro Person als ein Vorschiebeargument und ist eine weitere nicht-nachhaltige Zielsetzung in diesem Bericht.
Die Wohnbaubedürfnisse der Stadt Marburg unterliegen Zwängen der Bevölkerungsentwicklung, die als nicht-nachhaltig eingestuft werden müssen. Die Bedienung dieser Trends ist zwar unter finanziellen als auch verkehrspolitischen Gesichtspunkten im Rahmen der allgemeinen Tendenz des Konkurrenzdenkens und der "Größer-Schneller-Weiter-Mentalität" in Deutschland nachvollziehbar, entspricht aber in keiner Weise dem realen Handlungsbedarfs hinsichtlich ökologischer Probleme. Von diesem aber sollte auch oder gerade der Städtebau in Deutschland nicht verschont werden. Zur Verdeutlichung: In Deutschland werden täglich nahezu 130 Hektar in Siedlungsfläche umgewidmet, bei gleichbleibender Tendenz (die aber derzeit noch steigend ist) wird Deutschland in 80 Jahren vollständig bebaut sein! Es sollte gerade Marburg, das von einem Image einer "ökologisch intakten" (S. 7) Stadt profitieren will, ein Anliegen sein, diesem Image gerecht zu werden. Dies bedeutet, dass die im Bericht aufgeführten gesellschaftlichen Trends nicht bedient, sondern ihnen entgegengewirkt werden muss. Es ist selbstverständlich, dass Marburg dies nicht alleine leisten kann, da es sonst tatsächlich zum großen Verlierer der Region werden würde. Vielmehr sollten Bemühungen geleistet werden, regionale Kooperationen aufzubauen, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Für solche Kooperationen bestehen durchaus einige Ansätze, welche in Mittelhessen allerdings keine Anwendung finden. Außerdem ist eine Sensibilisierung der Bevölkerung für dieses Thema dringend notwendig, um den tatsächlich bestehenden Trend des ständig wachsenden Bedarfs entgegenzuwirken. Die Abnahme der Konjunktur, welche in die Prognose des Wohnraumbedarfs wohl nicht mit einbezogen wurde, kann hierbei ein Faktor werden, der einer nachhaltigen Entwicklung zuspielen könnte, allerdings ohne dringend notwendiges anhaltendes Bewusstsein zu bilden.
Leider ist es wohl unrealistisch, dass unter der derzeitigen politischen Situation die Stadt Marburg die Federführung einer regionalen Kooperation für eine nachhaltige Bodenpolitik in die Hand nimmt, da mit derartigen Maßnahmen zwar ein – endlich gerechtfertigtes! -ökologisches Image geschaffen, jedoch definitiv keine neuen Schlüsselzuweisungen gewonnen werden könnten! Ulf Marold, Mai 2003 (C) Alle Rechte beim Autor (u.marold@web.de) (IG MARSS e.V.)
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